04 Begrenzungen
Annette Streyl (D), Objekte und Skulptur
Vernissage: Freitag, 13.05.2016, 19 Uhr
Einführung: Dr. Stephan Strsembski, ehem. Kurator, Bonner Kunstverein Bonn,
Fachbereichsleiter Kunst, Ruhrakademie, Schwerte
Ausstellungsdauer: 14.05. – 12.06.2016
Finissage: 12.06.2016, 15 – 19 Uhr
Annette Streyl: Holbein in Holz und Stein
Die eindrucksvollen Portraits von Hans Holbein dem Jüngeren (1498 -1543) haben Annette Streyl animiert, zwei umfangreiche Bildkomplexe in unterschiedlichen Werkstoffen zu schaf-fen. Seine Gemälde und Zeichnungen spiegeln die Charaktere eines selbstbewussten und hu-manistisch gebildeten Bürgertums zu einer durch Buchdruck, Verlagswesen und Schriften geprägten Zeit des frühen 16. Jahrhunderts. Mit den Humanisten Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus war der Künstler eng befreundet. In den Kaufmannsstädten Augsburg, Basel und London fand Holbein im Milieu des weltmännischen Handels sowie des kulturfördern-den französischen und englischen Hochadels viele einflussreiche Auftraggeber, was ihm schließlich die begehrte Stellung als Hofmaler von Heinrich VIII. verschaffte. Es sind vor allem die mit kostbaren und gesichtsbetonenden Kappen, Hauben und gebundenen Tüchern gerahmten Köpfe, deren Individualität, Würde und verantwortungsvolle Menschlichkeit An-nette Streyl künstlerisch befragt.
In der flächenbearbeitenden Technik des Holzreliefs einerseits und der klassisch skulpturalen Steinbildhauerei andererseits gestaltet Streyl die Portraits der Zeichnungen und Gemälde Holbeins neu: Den verschiedenen Lagen der massenhaft produzierten und in jedem Baumarkt erhältlichen „Schichtholz“-Platten (sogen. „Siebdruckplatten“) gibt die Künstlerin zunächst eine Silhouette entsprechend dem linearen Umriss der Holbein-Figur; durch Entfernung der obersten, schwarzbraun eingefärbten Kunststoffschicht bleiben Verleimungsspuren und Ab-splitterungen auf der tieferen Platte stehen und lassen die Materialität von gewebten Stoffen assoziieren. Gesichter entstehen durch die weitere Auskerbung dieser Schicht, wobei zufällige Maserungen und Einfärbungen des industriell verarbeiteten Holzmaterials sichtbar werden und als Zeichen jeweiliger Individualität den Ausdruck konstituieren. Das ungewöhnliche Rosa des Klebstoffs zwischen den einzelnen Holzschichten provoziert zusammen mit dem braunen Leim die Erinnerung an die gediegenen Farben bei Holbein und bietet im Kontrast zur neutralisierenden dunklen Oberfläche eine vitalisierende Gegenwärtigkeit der Renais-sancemenschen.
Der Serie ihrer Tiefreliefs stellt Annette Streyl vollplastische Umsetzungen der Holbeinschen Bilder in einem anderen Werkblock gegenüber: Aus dem Baumberger Kalksandstein mit sei-ner spezifischen Blässe meißelt die Künstlerin prägnante Charakterköpfe - dreidimensional, aber kleiner und dadurch komprimierter als die gezeichneten Vorlagen -, so dass der Eindruck von Entrückung bei gleichzeitig geballter Präsenz entsteht. Diese Spannung, die sowohl durch die Differenz zwischen Zeichnung und Plastik als auch durch die entfärbt im monochromen Sandstein wirkenden Gesichtszüge der Persönlichkeiten Holbeins entsteht, verstärkt sich in der abrupten Montage von Kopf und Körper, dem jede menschliche Form fehlt. In der Dis-krepanz zwischen subtiler Gesichtsmodulierung und dem Unterbau, der zum klobigen Beutel, zur Larve, zur Mumie oder zum fest gewickelten Kindskörper ohne Bewegungsfreiheit gestal-tet ist, vermischen sich verschiedene Zeit- und Sinnebenen. So oszillieren die irritierenden Gebilde der Künstlerin zwischen den Lebenswelten der Renaissance und den Denkbildern des Surrealismus. Durch die Methode der Verfremdung des Verhältnisses von Körper und Geist ermöglicht Annette Streyl die Auflösung zementierter Epochenzuordnung und Leitbil-der, um sie in aktuellen Kontexten neu nutzbar zu machen. CM
Rinderhaut, Metallicgarn und Spitzendeckchen. Neue Objekte von Annette Streyl
Um die Wende zum 21. Jahrhundert verblüffte Annette Streyl als ausgebildete Stein-bildhauerin die Öffentlichkeit mit Strickobjekten. In unterschiedlichen Größen stellte die Künstlerin architektonische Hüllen von bestehenden Repräsentationsbauten der Poli-tik, Kultur und Wirtschaft als „soft-sculptures“ auf oder hängte sie wie Bettlaken über eine Leine. Inmitten boomender Bautätigkeiten eines neoliberalen Aufbruchs dämpften Streyls Arbeiten die postmodernen Euphorien in Stahl, Stein und Glas mit ironischer Geste: Anknüpfend an weiblich-häusliche Tätigkeiten des Strickens, Stickens, Häkelns und anderer Handarbeiten wurden der kuppelgeschmückte „Reichstag Berlin“, die ku-bische „Galerie der Gegenwart“ in Hamburg, „Ikea Dortmund“, „Deutsche Bank Frank-furt“, der Turm von „AT&T New York“, in wollenen Maschen faltbar und transportabel, zu bequem ausstellbaren Sinnbildern umgeformt.
Die neuen Objekte Streyls sind wiederum überraschend und nicht minder mit Bedeu-tung aufgeladen, wobei sie zunächst harmlos erscheinen mögen. Auf gewachsenen und schwarzgefärbten Lederhäuten von Rindern sind geometrische Formen zu zentrierten oder asymmetrischen Komplexen in Silbermetallgarn eingestickt. Streyl arbeitet mit visuellen Kontrasten zwischen hart und weich, unregelmäßig und modulhaft geordnet, organischer Natur und kulturellem Konstrukt. Erst im zweiten Blick auf die Stickereien werden Erinnerungen an bekannte Architekturgrundrisse wachgerufen. Allbekannt sein dürfte das in Beton gegossene Fünfeck des US-amerikanischen Verteidigungsmi-nisteriums, genannt „Pentagon“, erbaut 1941 anlässlich des Einritts der USA in den II. Weltkrieg und bis heute zu den größten zehn Gebäudekomplexen der Welt zählend. Von Streyls „Pentagon“ aus erschließt sich die Spur zu ihren anderen, stringente Ord-nung abbildenden Architektursystemen.
Besonders markant sticht ein kreisrundes Zeichen heraus, das von der Anziehungs-kraft eines starren Blicks bestimmt ist. Der mit Pupille im Zentrum und ausstrahlender Iris einem wachsamen Auge vergleichbare, von Streyl reproduzierte Grundriss wurde 1791 von dem Wirtschafts- wie Sozialpolitiker Jeremy Bentham entworfen zur Kontrol-le von Fabrikarbeitern und diente im 19. Jahrhundert dem Bau von Gefängnissen als Idealvorlage. In den Realisierungen des „Panopticon“-Typs erkannte der französische Philosoph Michel Foucault die steingewordene Signatur der modernen Disziplinar-Gesellschaften. Andere von der Künstlerin auf Rinderhaut mit Stickereien eingeschrie-bene Grundrisse sind historisch bis heute umgesetzte Variationen von zentral struktu-rierter Überwachungsarchitektur („JVA Freiburg“, „Berlin Moabit“, „Arizona Prison“, „SAP-Zentrale“, „Frauengefängnis Island“). Statt Haut als Bedeutungsträger hat die Künstlerin eine Serie dieser Baupläne auf ein Tortenpapier ähnliches Material appli-ziert - in Kombination mit einem Schmuckrand, der Muster von Spitzendeckchen zitiert. Damit treibt Annette Streyl das Disziplinierungsthema in den Handlungsbereich traditi-onell weiblicher Sozialisation und sabotiert jeden Gedanken an nett dekorierten Gau-mengenuss.
Claus Mewes, ehem. Leiter Kunsthaus Hamburg