Das blaue Hotel

Prof. Dr. Mikkel Bogh, Rektor, The Royal Danish Academy of Fine Arts, Kopenhagen

Jede der künstlerischen Interventionen im ehemaligen Hotel Beethoven in Bonn erinnert auf ihre ganz besondere Weise an standortspezifische Kunstwerke, die von Mitte der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts entstanden und von Künstlerinnen und Künstlern entwickelt wurden, die ästhetische Erfahrungen und Erkundungen über die Beschränkungen des traditionellen Galerieraums hinaus zu treiben suchten. Spätere Ausarbeitungen der frühen Interventionen auf architektonischem, urbanem und gesellschaftlichem Gebiet oder in der Natur haben die Möglichkeiten standortspezifischer Strategien erweitert und vertieft. Heute erleben wir eine Fülle an Kunstformen, die auf den öffentlichen Raum Bezug nehmen. Das geht sogar so weit, dass bei bedeutenden Ausstellungen zeitgenössischer Kunst den für die Galeriepräsentation vorgesehenen Werken eine ebenso große Menge dokumentarischer Materialien zu Aktivitäten außerhalb des Museums gegenübersteht. Das Hotel Beethoven wurde zu Beginn des Winters 2009 von einer Gruppe bildender Künstlerinnen und Künstler behutsam umgestaltet und definiert seine eigene Nische und eigene Kriterien von Präzision und Relevanz innerhalb dieses sehr weiten Feldes von standortspezifischer Kunst. Wie andere standortspezifische Projekte betont auch dieses den vergänglichen Charakter und die physische Basis des Erlebens. Die künstlerischen Arbeiten und Interventionen bedecken und transformieren Decken und Wände, Innen- und Außenräume, Fenster und Dach. So wird das Publikum dazu veranlasst, im Gebäude umherzugehen, ohne ihm einen bevorzugten Standort anzubieten, von dem aus man das Gesamtbild erfassen könnte. Der Betrachter wird nie einfach so vor das Werk gestellt; die im Hotel Beethoven präsentierten Arbeiten bilden einen integralen Bestandteil ihrer Umgebung, sie sind Teil des Raums, den wir als Betrachter einnehmen, und Teil des Lichts, in dem wir sie sehen. Und wie viele andere temporäre Projekte im öffentlichen Raum stellt auch dieses die konventionelle Wahrnehmung des Ortes infrage. Es ist so, als sei dieses stillgelegte und in Kürze zum Abriss vorgesehene Hotel vorübergehend neu zum Leben erwacht, allerdings zu einem anderen Leben als vorher, zu einem zweiten Leben ohne die auf Bequemlichkeit abzielenden Routineabläufe und Regeln eines Hotelbetriebs. Das Gebäude ist zu einem merkwürdigen, von einer geisterhaften, nostalgischen und poetischen Atmosphäre durchdrungenen Ort geworden, an dem nichts mehr vorhersehbar ist und alle Anzeichen für Behaglichkeit verschwunden sind. Aus Sicht des normalen Hotelbesuchers hat dieser Raum also seinen unmittelbaren Zweck verloren. Auf eine ihm eigene stille Art fordert er, auf andere Weise erfahren zu werden.

Das Projekt im Hotel Beethoven ist dabei alles andere als eine abgedroschene Visualisierung von Freuds Unheimlichem und lässt sich mit Worten wie „Entfremdung“ oder auch „Dekonstruktion“ nur unzulänglich beschreiben. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Kunstwerke den Ort ganz allgemein zu etwas machen, das er vorher nicht war, und uns so gewissermaßen zwingen, unser Verständnis von ihm zu revidieren. Man könnte sagen, dass die Werke, soweit sie den dysfunktionellen Zustand des Gebäudes für sich nutzen, den Wert des Hotels verändern, indem sie verborgene Potenziale und unentdeckte Perspektiven erschließen. Aber die Interventionen im Hotel Beethoven wollen beim Betrachter keineswegs Gefühle von Entfremdung auslösen und ihn so auf Abstand halten; vielmehr geht es bei ihnen um Expansion, Inklusion und Präzision, so unterschiedlich sie in ihrer Herangehensweise auch sein mögen.

Expansive standortspezifische Strategien sind durch die Fähigkeit des Kunstwerks definiert, mit einer vorhandenen Umgebung so zu interagieren, dass sich spontan eine Reihe von möglichen Lesarten und Interpretationen eröffnet. Mit Expansion ist hier eine Lockerung von perzeptuellen und interpretatorischen Konventionen gemeint, die das Sinnverständnis behindern. Dies bedeutet auch, zwischen der üblichen Nutzung eines Ortes einerseits und seiner imaginären Existenzform andererseits Wege zu eröffnen. Christoph Dahlhausens Spiegelbodenwerk, das den Raum verdoppelt und krümmt, oder seine „Blaue Laterne“, die aus einer ansonsten praktisch unsichtbaren Ecke des Gebäudes ein kaltes Licht verbreitet, zeigen dies deutlich. Karsten Födingers Zusammenschluss von zwei ehemaligen Hotelzimmern könnte auch als Beispiel dafür dienen, wie ein spezifischer Topos mit einem anderen, ebenso konkreten Raum in Verbindung gebracht wird und so ein dritter, bis dahin nicht existenter, eigenständiger Raum entsteht. Vielleicht ergibt sich auch ein U-Topos, aber der ist dann ein Nicht-Raum, der (im Gegensatz zu den meisten Utopien) nichts Besonderes verheißt. Was das angeht, gehört Rita Rohlfings blauer, fast filmischer Raum in die gleiche Kategorie von Interventionen; er zielt darauf ab, zwischen dem konkreten Ort und einem anderen imaginären Ort eine Brücke zu schlagen. Es geht hier um einen Prozess der Allokation – oder vielleicht sogar einer Dislokation –, durch die das Vorhandene eine Ausweitung erfährt.

Inklusive standortspezifische Strategien enthalten und entfalten Geschichten, Stimmungen und Bedeutungen, die einem bestimmten Ort innewohnen. Gleichzeitig tendieren sie dazu, die Erwartungen und Vorstellungen des Besuchers einzubeziehen. Dadurch entwickeln und erarbeiten die Werke das, was – möglicherweise nur potenziell – bereits vorhanden ist, und fügen es zusammen. In einem Ambiente wie dem Hotel Beethoven könnten die enthaltenen Geschichten natürlich aus vielfältigen imaginären Stimmen von Gästen auf der Durchreise bestehen. Sie könnten auch in den Fluren, Bars oder Foyers des Hotels zu finden sein. Sie alle sind Topoi aus Filmen und der modernen Literatur, bedeutsame Orte, an denen sich Menschen treffen oder auffallend anonym aneinander vorbeigehen, an denen sie Floskeln austauschen, Nachrichten hinterlassen oder Zufallsbegegnungen erleben, die den Lauf ihres Lebens verändern. Tony Trehys Schrift an der Wand beschwört gesprochene, gedachte oder geträumte Worte von Menschen herauf, die diesen Raum vielleicht bewohnt haben. Jedes dieser Worte schafft einen intimen Moment in Raum und Zeit, der von den anderen Zimmern und Diskursen des Hotels isoliert ist. Es sind keine zusammenhängenden Sätze, sondern an die Abmessungen des Raumes angepasste Fragmente. Keine einzelne Handlungsebene darf unser Erleben dieser spezifischen Umgebung definieren. Achim Zemans Herangehensweise ist eindeutig expansiv, aber außerdem bezieht oder vielmehr hüllt er den Betrachter und den Raum in einen dynamisch-optischen Fluss ein, der die strukturelle Energie der Hotelarchitektur aufnimmt und umleitet.

Präzisionsgeleitete standortspezifische Strategien sind schwieriger zu definieren. Sicherlich haben sie nichts mit Wunschträumen von Exaktheit oder mit klaren geometrischen Formen zu tun, auch zielen sie nicht allein darauf ab, das Bestehende zu definieren. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie versuchen, den Ort auf eine poetische Ebene zu heben, aber ohne den Bezug zum eigentlichen Raum, in dem die Arbeit aufgestellt ist, zu verlieren. Kontextbasierte Kunst bedeutet notwendigerweise mehr als nur einer Sache, die nun einmal da ist, etwas aufzupfropfen oder hinzuzufügen. Um kontextuell relevant zu sein, muss die Intervention das Terrain sorgfältig sondieren – und schließlich verändern. Auf der Basis einer Analyse – entweder der Phänomenologie des Raums oder der sozialen Struktur und der Semiotik seiner Architektur – lässt sich ein Diagramm seiner Funktionen erstellen, das den Ausgangspunkt für die nächste Konstruktionsphase bildet: die Entwicklung eines eingefügten Raums. Der eingefügte Raum kann den ersten verdrängen, wie z. B. in Nicola Schudys humorvoll destabilisierendem Werk, bei dem der Boden zur Wand wird; ebenso kann es aber auch den umgebenden Raum überfluten, wie die Farbfelder, die den Betrachter in den Arbeiten von Jan van der Ploeg oder Yvo Hartmann einhüllen. Präzisionsgeleitete Werke müssen den Betrachter nicht unbedingt einbeziehen; manchmal schließen sie ihn sogar unverhohlen aus, wie beispielsweise Daniel Göttins Raum, den man kaum betreten kann, ohne die kühle und zerbrechliche Anordnung von Bändern und Streifen durcheinander zu bringen.

Inzwischen sollte deutlich geworden sein, dass die oben erwähnten Charakteristika der Interventionen im ehemaligen Hotel Beethoven in der Bonner Innenstadt keine klar voneinander abgrenzbaren Kategorien darstellen, denen sich die künstlerischen Beiträge eindeutig zuordnen lassen. Expansion, Inklusion und Präzision sind miteinander verflochten und oft schwer voneinander zu unterscheiden. Was das Hotel Beethoven angeht, so ist es wohl kaum noch ein Ort, der von Touristen und Geschäftsleuten frequentiert wird. Es ist jetzt zu einem Ort für kreative Experimente und ästhetische Veränderungen geworden. Aber ist nicht dieses besondere Projekt, das zu Beginn des letzten Winters dieses Jahrzehnts entstand, eine fantasievolle Erkundung des blauen Hotels, das allen Hotels innewohnt, des Hotels, das mehr ist als nur ein komfortabler Ort für Übernachtungen, nämlich ein Raum der kleinen Heterotopien, der intimen Schlupflöcher, der Zonen der Ab- oder Anwesenheit inmitten eines generalisierten und kontrollierten öffentlichen Raums?