Zeitreisen jenseits des „White Cube“

Prof. Dr. Stephan Berg, Intendant des Kunstmuseum Bonn

Seit jeher sind die Inhalte der künstlerischen Produktion unauflösbar an die Frage ihrer Präsentation geknüpft. Die Kirchen und Adels-Paläste, in denen Kunstwerke seit dem Mittelalter hauptsächlich ihren Ort fanden, prägten dabei die künstlerischen Arbeiten ebenso, wie sie andererseits durch diese ein Stück weit transformiert wurden. Stets galt dabei aber, dass die Kunst und ihr Präsenta­tionsrahmen in einem engen, durchaus funktionalem Verhältnis standen. Ob Van Eycks Genter Altar, Giottos Scrovegni-Kapelle in Padua oder Tintorettos Scuola Grande di San Rocco in Venedig – immer verfolgte der jeweilige Auftraggeber mit dem künstlerischen Werk eine ganz bestimmte, oft direkt an die jeweilige Raumsituation geknüpfte Absicht. Was gleichermaßen auch bedeutete, dass die Kunst eben immer auch bestimmte Bildprogramme zu erfüllen hatte und sich nicht autonom ihren ganz eigenen, individuellen Zielen zuwenden konnte. Erst das 19. Jahrhundert und die damit verknüpfte langsame Ablösung der künstlerischen Produktion von kirchlichen oder feudalistischen Auftraggebern, sorgten für eine Autonomisierung der Kunst.

Mitbefördert durch das erstarkende Bürgertum, das sich frustriert durch den misslungenen Versuch, im Rahmen der 1848er Revolution an der politischen Macht zu partizipieren, nun verstärkt dem Bereich der Kunst und Kultur zuwandte, entwickelten sich die ersten Ausformungen des heutigen Kunstmarktes. Für diesen produzierte der Künstler Werke, die ihre Legitimation und ihren Ort allein durch das Interesse eines anonymen Marktes finden mussten. An die Stelle der klar definierten Zweckbeziehung zwischen Auftraggeber und ausführendem Künstler trat die nur sich selbst verpflichtete künstlerische Vision, die sich auf einem abstrakten Feld von Angebot und Nachfrage zu behaupten hatte. Im Zuge dieser Individualisierung und Selbst-Definierung künstlerischer Tätigkeit wurde die Kunst zunächst ortlos, um sich dann in der Folge ihre ganz eigenen Orte zu schaffen.

Deren bislang virulenteste und folgenreichste Manifestation ist der reine weiße Ausstellungsraum, der sogenannte „White Cube“. Er ist der Rahmen, in dem die Kunst einerseits ihr Anderssein, ihre reine Selbstverpflichtung ebenso machtvoll ausdrückt, wie er andererseits die Kunst von dem Kontext des Realen entfernt, in den sie zuvor Jahrhunderte eingebettet war. Brian O´Doherty, der 1976 die systematische Analyse des „White Cube“ als erster betrieben hatte, kam zu dem Ergebnis, dass die durch den „beleuchteten, leeren, weißen Raum“ beabsichtigte Befreiung der Kunst zu sich selbst, in Wirklichkeit ihre Neutralisierung bedeute, weil sie aus dem exklusiven Verhältnis zwischen Werk und Betrachter, alle ökonomischen, theoretischen oder politischen Fragen ausklammere, das Werk also defacto kontextlos mache. Dafür befördert das strahlende Weiß der Umgebung eine Form der Erhabenheit, in der die ausgestellten Werke eine nahezu sakrale Dimension erreichen.

Es ist vor allem diese Form der künstlichen Entrückung des Kunstwerks aus seinen biografischen, sozialen und politischen Bezügen, das in den 70er Jahren amerikanische Künstler wie Michael Asher oder Robert ­Smithson dazu veranlasste, sich institutionskritisch mit dem Display des Galerie- und Museums-Ausstellungsraum auseinander zu setzen, nicht zuletzt, um die ökonomischen Nobilitierungsstrategien hinter der scheinbar rein ästhetischen Gesichtspunkten folgenden Präsentationsform zu verdeutlichen. Laut Smithson verliert das Kunstwerk im Galerieraum jegliche Brisanz und wird durch die kuratorische Praxis in einer Weise isoliert, die es zum kranken, hilflosen Invaliden macht, das von den Kritikern wahlweise für heilbar oder unheilbar erklärt wird. Die Integration des Werks in den neutral erscheinenden Ausstellungsraum sorgt dafür, dass es unwirksam, abstrakt, ungefährlich und politisch lobotomisiert wird und damit – auf das Niveau schlichter Handelsware heruntergewirtschaftet – für widerstandslose gesellschaftliche Konsumption geeignet erscheint.

Der Ausweg aus diesem Zirkel von Verharmlosung und merkantiler Aufladung des Kunstwerks lag für ­Smithson darin, sich diesem Betrieb vollständig zu entziehen und im Rahmen großangelegter Land-Art-Projekte eine Form der künstlerischen Produktion zu verwirklichen, die sich musealer, wie auch ökonomischer Vereinnahmung komplett verweigerte. Im Kern sind seither alle künstlerischen Strategien, die sich außerhalb klassischer institutioneller Kunst-Orte verwirklichen, von der Sehnsucht geprägt, ihre Wirksamkeit und Brisanz durch eine direkte Kontextualisierung mit der Wirklichkeit zu erhöhen und gleichzeitig den Kreislauf einer ästhetischen Isolierung, die geschmeidigere Vermarktung verspricht, zu durchbrechen.

Das trifft auch auf ML Moving Locations e.V. zu, eine Initiative der beiden Bonner Künstler Christine Rühmann und Sjaak Beemsterboer, die in hohem Maße von dem Anliegen geprägt ist, eine konkrete Reibehitze zwischen den Projekt-Orten und den jeweiligen künstlerischen Arbeiten herzustellen. HB HOTEL BEETHOVEN, die neueste Idee des Duos verknüpft dabei auf ebenso kluge wie einleuchtende Art und Weise die geschichtliche Recherche nach der Transformation eines ehemals zentralen Bonner Ortes mit einer temporären Gruppenausstellung von durchaus internationalem Format. Ausgangspunkt bildet das dem Abriss geweihte Hotel Beethoven an der Rheinpromenade. Für Rühmann und Beemsterboer sind der anstehende Abriss und der geplante Wohnanlage Rhein­logen ein klares Indiz für den Wandel der ehemaligen „Bonner Republik“. An die Stelle der kleinstädtischen Funktionalität, welche die Bebauung der 1950er und 70er Jahre in Bonn, wie im Rest der Republik kennzeichnete, treten extrovertierte Fassadenrhetorik und coole Neo-Moderne, und damit Inszenierungselemente, die über äußere Signale innere Bedeutung suggerieren wollen, beziehungsweise dokumentieren.

Im Verhältnis dazu operierte die „Bonner Republik“ mit gezieltem Understatement, das sich direkt aus den katastrophalen Erfahrungen des Nazi-Regimes speiste. Gerade aus dem scheinbaren Missverhältnis zwischen äußerer Unscheinbarkeit und innerer, oft weltpolitischer Bedeutung, entstand der Charme der „Bonner Republik“. Die städtebauliche Rhetorik unterstützte das Bild der beschaulichen Kleinstadt mit einer mentalen Unaufgeregtheit, hinter deren Kulissen Entscheidungen von nationaler Bedeutung getroffen wurden, ohne, dass sich das Eine vom Anderen entkoppelte. Damit formulierte die alte Bundeshauptstadt einen maximalen Gegensatz zur jetzigen „Berliner Republik“, die architektonisch wie inszenatorisch genau am Bild einer Weltmetropole arbeitet. Nicht die Zusammenführung von lokal-regionaler Befindlichkeit und geopolitischen Weltgeist leitet dieses Politikmodell, sondern die bewusste Entkopplung. Die Bundesrepublik ist erwachsen geworden und hat damit auch die einstigen Skrupel bezüglich einer allzu selbstbewussten Inszenierung des eigenen Anspruchs abgeschüttelt. Axel Schultes Berliner Bundeskanzleramt, direkt beeinflusst von seinem Entwurf des 1992 eröffneten Bonner Kunstmuseums ist deutlicher Ausdruck dieses gewandelten Verständnisses, mit dem die Bundesrepublik ihre Rolle als internationale Mittelmacht nun auch symbolisch unterstreicht, und nicht - nahezu verschämt - versteckt.

Das Hotel Beethoven, in dem Rühmann und Beemsterboer ihr Ausstellungsprojekt «fully booked» ansiedeln, ist in gewisser Weise das perfekte Beispiel für die Doppelgesichtigkeit der ehemaligen „Bonner Republik“, weil es – von außen völlig unscheinbar und bieder – über viele Jahre Treffpunkt der internationalen Politik- und Kultur-Prominenz war und sich mit seiner Lage zwischen Universität und Oper und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den politischen Zentren durchaus real wie symbolisch im Mittelpunkt Bonns und der gesamten Republik befand.

Die temporäre künstlerische Vermessung dieses Hotels ist so etwas wie eine Zeitreise, eine Spurensuche nach dem Charme des Banalen und Alltäglichen, der über mehr als 40 Jahre das Bild der Republik mit allen positiven wie negativen Implikationen geprägt hat. Die Einladungsliste ist international und in ihrer Schwerpunktsetzung auf ortspezifisch und installativ arbeitende KünstlerInnen qualitativ ambitioniert und inhaltlich sensibel ausbalanciert. Antonia Low, Andreas Lorenschat, Manuel Franke, Grösch/Metzger, Daniel Schürer, Jan Verbeek, Paul Schwer, Christoph Dahlhausen, Graham Hudson, um nur einige wenige Namen herauszugreifen, spannen ein künstlerisches Panorama auf, das zwischen Architekturkritik, urbanistischer Forschung, soziologischer Recherche, installierter Malerei, zeichentheoretischer Setzung und dekonstruktivistischer Skulptur beeindruckend konsistent argumentiert. Hotel Beethoven und «fully booked» können insoweit einen Beispielcharakter für freie künstlerische Projekte in der diesbezüglich ansonsten eher ruhigen ehemaligen Bundeshauptstadt und heutigen Bundesstadt Bonn für sich beanspruchen.